Der letzte Tag an Bord bricht an. Um 10 Uhr sollen alle Koffer vorm nächstgelegenen Aufzug stehen und die Kabinen geräumt sein.
Beim Frühstück treffe ich den Kapitän. Er begrüßt mich freundlich und fragt, ob ich schon lange wach sei. Seit acht sage ich. Er sieht mich erstaunt an. Da habe ich aber lang geschlafen.
Wenn ich ihm noch gesagt hätte, dass ich um eins das Licht ausgemacht habe, hätte er sicher gesagt: So früh!
Tja. Möglichst wenig schlafen, ist eben nicht bei mir.
Da ich nun keinen Platz mehr zum Schneiden habe, befrage ich lediglich noch ein paar Gäste zu ihrem Aufenthalt und dann packe ich das Mikro weg. Genug jetzt.
Der Himmel reißt auf und zum ersten Mal seit Tagen kann ich selbst wirklich entschleunigen. Ich sitze an Deck und halte mein Gesicht in die Sonne, blinzele ab und zu und erhasche einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Schroffe Felsküsten mit Nadelhölzern bewachsen. Manchmal lässt eine Lücke im Fels oder Waldstück eine satt grüne Wiese dahinter erahnen. Als wolle die Natur alles schützen, was im Land dahinter liegt.
Das Wasser liegt wie schwarzes Glas unter uns, und ein sanfter Wind weht mir durch die Haare.
Für etwa eine Stunde bin ich ganz allein. Nur selten läuft ein Gast an mir vorbei, und ich genieße die Stille und die wärmende Sonne.
Selbstverständlich habe ich die Uhr immer ein bisschen im Blick. Ich darf das Mittagessen nicht verpassen. Wer weiß, ob ich auf den Flügen wieder hungern muss. Ich bin ja schließlich klug geworden.
Und dann löse ich das Versprechen des Kapitäns ein. Obwohl ich in seinen Augen extrem lange geschlafen habe, lässt er mich widerstandslos auf die Brücke.
Er freut sich sogar regelrecht. Willkommene Abwechslung, sagt er.
Zunächst sitze ich einfach so da und genieße die grandiose Aussicht.
Dann fängt er an, mir zu erklären, was wir sehen.
Er erzählt, was ihm das Land bedeutet, dass er versucht, seine Umwelt zu schützen und nachhaltig zu leben. Dass er sich auf seine Familie freut, seine beiden Kinder, die er bald wieder sehen wird: Nach 22 Tagen an Bord hat er 22 Tage frei.
Die werde er aber auch zum Angeln nutzen. Nur er und die Natur, die Angel und die Lachse.
Dann berichtet er mir noch freudig, dass er für seine Rückreise zwei Boxen von seinem Lieblingseis ‚getrockneter Fisch‘ bestellt hat.
„Komisch“, meint er, „das war die billigste aller Sorten.“
Ich kann mir kaum erklären, wieso…
Und dann steuern wir Bergen an. Der erste Offizier lenkt das Schiff gekonnt rückwärts an den Pier, die Motoren verstummen, und die Gäste werden gebeten, das Schiff zu verlassen.
Ich verabschiede mich. Es ist irgendwie ein seltsamer Abschied. Von einem Menschen, den ich kaum kenne, bestimmt nicht wiedersehen werde und der mir doch für eine Stunde das Gefühl gegeben hat, Teil einer anderen Welt zu sein. Ein schönes Erlebnis. Er nickt mir zu, und ich verlasse das Schiff.
Die Reise ist noch nicht vorbei!
Alle strömen zu den Bussen. Ich bin mit meinem Voucher bewaffnet und halte Ausschau nach dem Unternehmen, das auf dem Zettel steht. Alle Busse sind mit anderen Firmennamen bedruckt. Ich frage den Busfahrer von einem, auf dem ‚Flughafen‘ steht, ob das der richtige Bus sei. Um ehrlich zu sein, habe er keine Ahnung. Egal. Ich solle einsteigen. Besser, als nach irgendwo da hinten oder irgendwo da unten gehen zu müssen.
Wir kommen zwei Stunden vor Abflug am Flughafen an. Genug Zeit zum Einchecken, und ich investiere mein letztes Norwegisches Geld in Süßigkeiten für die Kollegen. Bamse Mums. Irgendwelche Bärchen mit Schokolade überzogen, die ich, zugegeben, ausschließlich wegen des lustigen Namens kaufe.
Und dann haben wir noch mehr Zeit: Der Flug verspätet sich.
Und noch mehr Zeit. Der Flug verspätet sich weiter.
Insgesamt fast eine Stunde.
Na Bravo.
Umsteigen mit Zeitlimit kenne ich ja schon.
Beim Anflug auf Amsterdam sagt die Stewardess, dass man den Anschlussflug nach Hamburg vielleicht noch bekommt, wenn man rennt und sich überall durchdrängelt.
Wenigstens muss ich meinen Koffer nicht abholen. Der ist durchgecheckt bis Hamburg.
Ich verfluche also die Laptoptasche, Mikrofon und Aufnahmegerät, die mir wie Blei auf den Schultern hängen, während ich über den Flughafen renne. Von Gate B bis ganz hinten bei Gate D.
Vielleicht kann ich bei Olympia mit einer neuen Sportart antreten: Airport-Running. Übung hätte ich jetzt.
Pünktlich zum Boarding komme ich an. Was? Da hätte ich mir ja regelrecht Zeit lassen können. Es sind immerhin noch zehn Minuten bis Abflug!
Ich sitze also im Flugzeug.
Wie sich später herausstellt, war ich schneller als das Flughafenpersonal. Mein Koffer kommt nicht in Hamburg an, sondern verweilt noch in Amsterdam.
Ich hoffe, er genießt seinen Aufenthalt und kommt dann – ganz entspannt – zu mir zurück. Ich renne ihm bestimmt nicht hinterher!